1 Erste Phase - Diagnose2 Zweite Phase - TherapieKrankenhausgeschichten

Auf gute Nachbarschaft

Bettgeschichten

Der Verlauf der Heilung einer Krankheit hat viele Facetten, eine der wichtigsten Fragen im Laufe der vielen Chemos aber war immer wieder die folgende: Mit wem komme ich auf ein Zimmer? Wie sieht meine Bettnachbarin aus? Mit wem teile ich „gute Nachrichten – schlechte Nachrichten“? Komme ich mit dieser Person klar? Zieht mich das Schicksal „der anderen“ mit herunter? Bin ich für sie eine Belastung? Kann ich trösten, will ich getröstet werden? Die Frage hat etwas von einem Blind-Date. Eigentlich spannend. Aber gleich mit Übernachtung? Möchte man das? Sich so schnell so nahe kommen? Der Ort – ein Zimmer auf einer Onkostation – ist ja zudem noch ziemlich unsexy, vom Anlass möchte ich erst gar nicht sprechen. Um es vorweg zu nehmen: Es gibt „solche und solche“ – wie überall im Leben. Und wahrscheinlich sagen meine Zimmernachbarinnen ähnliches von mir. „Sie ist mal so, mal so.“ War ich ja auch …

Poleposition

Die Anspannung war stets auf beiden Seiten mit Händen zu greifen. Manchmal entscheidet schon ein Bett am Fenster über die Poleposition im Krankenzimmer. Hast du den Platz ergattert, hast du das sprichwörtliche „Klima im Raum“ in der Hand. Außerdem kreucht und kruschelt nicht alle naselang jemand an deinem Bett entlang, weil er dort an seine Sachen im angrenzenden Schrank kommen möchte. Denn der Schrank befindet sich – zumindest in meinem „Lieblingskrankenhaus“ – immer am ersten Bett und nicht hinten am Fenster. Und die Verortung des Bettes im Zimmer ist auch gleichzeitig kombiniert mit der Platzierung der Kosmetiktasche im Bad. Ihr merkt, es geht um alles ;-).

In so einem Patientenzimmer erlebt man einiges. Wenn man in entsprechender Stimmung ist, könnte man hier wunderbare Sozialstudien anstellen. Denn logischerweise bildet auch das Krankenhaus die Gesellschaft ab, in der wir leben. Krebs kennt keine Klassen, zumindest nicht an einer Uniklinik.

Ab jetzt Immer privat – eigentlich

Denn natürlich bin auch ich zunächst den Klischees der Öffentlichkeit erlegen, nämlich dass „privat“ besser als „gesetzlich“ sei. Ist es nicht: die Onkologie macht keine Unterschiede, es zählt einzig und allein die Schwere der Erkrankung. Oder anders formuliert: je spezieller der Fall, desto engmaschiger, ober- und chefärztlicher die Betreuung. Einzelzimmer sind nicht den Privatpatienten vorbehalten, sondern den Patienten, die sich bedauerlicher Weise einen Keim eingefangen haben. Und, ganz wichtig: Jede Patientenakte landet auf dem Chefarztschreibtisch, jede. Was ich damit sagen will: Privatpatienten bleiben nicht unter sich, sie sind Teil der Schicksalsgemeinschaft auf einer Station. (Anmerkung: Ich bin übrigens keine, ich habe – ganz im Gegenteil – eine wirklich tolle gesetzliche Krankenkasse „erwischt“, aber das ist ein anderes Thema!)

Marita – oder das erste Mal

Die Warterei, bevor ich zum ersten Mal ein Krankenzimmer beziehen sollte, war schon sehr aufregend. Ich war ohne Begleitung angereist. Mein Koffer stand wie eine schützende Wand neben mir. Ich war nervös. Am Tisch gegenüber saß eine Frau, schätzungsweise Anfang, höchstens Mitte 60 – mit langen schwarzen Haaren. Damit war klar, sie stand noch ganz am Anfang ihrer Therapie. Ich war also schon weiter, hatte ja bereits meine Haare verloren und trug meine wunderschöne Langhaarperücke. Bemerkenswert, welche Attribute auf einmal besondere Aufmerksamkeit und vor allem neue Wertung erlangen.

Schöne Grüße aus St. Pauli

Es stellte sich schließlich heraus, dass wir beide ein gemeinsames Zimmer beziehen sollten. Nun, dachte ich, ich hätte es schlimmer treffen können. Sieht eigentlich ganz nett aus. Dazu kam, und damit bei mir schon mal positiv verankert, dass sie gebürtige Hamburgerin war. Ihr Dialekt hatte sie schnell verraten. Herrlich. Wie schön, dachte ich, Norddeutsche mag ich. Ich habe länger dort gelebt, der Menschenschlag ist mir vertraut. Eins war auch schnell klar, aus Blankenese kam sie nicht. Richtig: Sei wurde mit St. Pauli-Hafenwasser getauft.

Leben im Zeitraffer

Es ging thematisch auch ganz schnell „in die Berge“: Ihre Zeit auf dem Kiez, der Reeperbahn (aha), der Alkohol (mmh), verflossene Freundschaften (oh, krass), die Sache mit den Männern in ihren Angeberschlitten (klar), der langen Arbeitslosigkeit (sch….) und leider auch eine verkorkste Kindheit (stöhn). Mann oh Mann, ich kam kaum zum gedanklichen Luftholen. Weglaufen konnte ich auch nicht. Ich hatte den Eindruck, ich war seit langem der erste Mensch, der ihr – durchaus interessiert – zuhörte.

Ich fand die Geschichten hochspannend, teilweise verschüchternd und skuril. Für mich war das eine völlig neue Welt und ihre Sprache war sehr eindeutig. Kein überflüssiges Wort und bemerkenswert bildhaft. Außerdem tat sie mir leid, denn der einzige Verwandte, der ihr geblieben war, ihr Bruder, kam sie nicht besuchen, obwohl er ebenfalls in Berlin lebte. Er konnte seinen Hund nicht allein lassen. Klar … Die Freunde waren verstorben oder nicht so eng mit ihr, dass sie überhaupt von ihrer Erkrankung wussten. Sie war eben auch sehr stolz. Typisch norddeutsch. Ergo: Es kam wirklich niemand vorbei, um sie zu besuchen.

Die „Schattenseite“

Daher passierte, was passieren musste: Ich war ihr sozialer Mittelpunkt, ihr persönlicher „Kummerkasten“, ihre Vertrauensperson, ihre „Beste-Freundin-Forever“. Sie war mein Schatten und mein kleines „Radio“, das unentwegt auf mich einplapperte. Selbst wenn ich Besuch hatte, mischte sie sich munter in die Unterhaltung ein und adoptierte quasi meine Familie, meine Freundinnen. Schließlich stand sie sogar neben mir am Waschbecken, um zusammen mit mir die abendliche Mundhygiene zu erledigen. Ich weitete erschrocken die Augen und gab ihr zu verstehen, dass mir das doch etwas zu nah sei.

Als der erste Chemo-Zyklus vorbei war und wir beide am selben Tag entlassen wurden, wäre sie am liebsten bei uns ins Auto gestiegen und mit uns nach Hause gefahren. Ich machte mir Sorgen um sie. Denn sie hatte niemanden der für sie kochte, sich um sie kümmerte, sie bei der Hand nahm, sie tröstete. (Anmerkung: Leider ist sie damit kein Einzelfall. Das musste ich später häufiger erfahren. Gerade die älteren Menschen waren sehr hilflos und meist auf sich alleingestellt. Ausnahme: „meine“ Biggi! Aber dazu später mehr.)

Jedes Töpfchen findet sein Deckelchen – auch hier

Auch wenn es mir zum Schluss zu viel wurde und meine Psychoonkologin davon abgeraten hatte, die weiteren Zyklen mit ihr zusammenzulegen (auch räumlich), denke ich heute noch oft an Marita. Ich hoffe von Herzen, dass es ihr gut geht. Im Laufe der Zeit begegneten wir uns noch einmal auf der Station, das bleibt ja nicht aus. Sie hatte verstanden und war mir auch nicht böse. Inzwischen hatte sie – Gott sei Dank – woanders Anschluss gefunden. Eine Frau ihres Alters mit einer ähnlich schwierigen Vergangenheit, wie ich wusste. Denn auch mit dieser Dame lag ich eine kurze Zeit zusammen in einem Zimmer.

Lieblingsbärbel und Lieblingsbenno

Sie war schon da, als ich ins Zimmer stolperte. Bärbel saß mit hängendem Kopf am Tisch und schaute mich ziemlich schüchtern an. Ich merkte gleich, die Stimmung war geknickt. Ich versuchte die Situation etwas aufzulockern und stellte mich mit einem fröhlichen Lächeln vor.

Kaum wollte ich zum lockeren Sozialgeplauder ansetzen, klopfte es auch schon und die Schwester holte mich zu meinen Aufnahmeuntersuchungen ab. Im Behandlungszimmer fragte ich sie gleich, ob meine Bettnachbarin immer so bedrückt sei. Nein, meinte sie, das ist eine ganz liebe. Ja, das hatte ich mir schon gedacht, aber warum diese Traurigkeit? Nun, ihre vorherige Bettnachbarin ist zusammengebrochen – das war nicht schön – und ist nun auf der Intensivstation. Puh, was für ein Auftakt. Ich verstand ansatzweise, was da los gewesen sein musste. Keine leichte Aufgabe für mich. Ich beschloss, mir nichts anmerken zu lassen und sie aufzuheitern.

Als ich zurückkam, packte ich meine Sachen aus und fragte nach diesem und jenem. Nichts Wichtigem. Alles nur Geräusche, um die Bedrückung los zu werden. Es gelang mir ehrlich gesagt nur mit mäßigem Erfolg.

Sport hilft

Aber zum Glück wurde zu der Zeit die Handball-EM in Polen ausgetragen (Januar 2016) und die Deutschen waren ganz gut im Spiel. Direkt am ersten Abend konnte ich sie für die Spiele „unserer“ Nationalmannschaft begeistern. Sie war wie ausgewechselt und blühte förmlich auf. Auch Angelique Kerber war damals auf dem Weg, ihren ersten Grand Slam zu gewinnen, die Australian Open. Wir waren beide total im Sportfieber. Benno (ihr Mann) versorgte uns immer mit seinen wunderbaren weichgekochten Eiern und leckeren Smoothies. Abends legte er sich oft neben Bärbel ins Bett und wir schauten zu dritt – die beiden hatten sich den Kopfhörer neben ihre Köpfe gelegt und konnten so den Spielverlauf verfolgen, süß! Es war sehr harmonisch und wir wuchsen schnell zu einem eingespielten Team zusammen.

Irgendwann später erzählte sie mir von dem ganzen Drama, das sich in ihrem Beisein abgespielt hatte. Ich nahm sie in die Arme und wir atmeten beide tief durch, glücklich, dass es uns eigentlich ganz gut ging. Wir taten uns beiden einfach insgesamt sehr gut. Die einzige Kröte, die ich schlucken musste, war Bärbels Vorliebe für die ARD-Serie „Sturm der Liebe“, da muss man schon sehr „hart im Nehmen“ sein. Schmunzel. Naja, wenn es mehr nicht ist. Geschenkt. Ich hatte meine Musik dabei und reichlich Lesestoff.

Trainee-Programm: Verhalten im Krankenhaus

Außerdem haben wir auch gleich eine Art Trainee-Programm für das Verhalten im Krankenhaus entwickelt. Es gibt so viele Dinge, die man als Patient lernen muss: Erstens: Wie stoppe ich die Infusion, so dass ich mit ihr auf die Toilette gehen kann, auch wenn ich in meinem Bett auf irgendeinem Flur zu irgendeiner Untersuchung liege und nicht informiert werde, wie es und vor allem wann es weiter geht? Dass ich für solche Fälle immer auch (zweitens) meine Schuhe mitnehme – man weiß nie wo das nächste WC ist – und natürlich (drittens) nerve, mich in Erinnerung rufe. Denn natürlich rutscht mal was durch. Auch Schwestern vergessen mal was. Dann (viertens) das Nachfragen und Vorbereiten der Visiten, das haben wir richtig geübt. Denn Bärbel traute sich am Anfang nicht so recht, ihre Fragen an die „Götter in Weiß“ zu richten. Den Zahn habe ich ihr schnell gezogen. Alles nur Menschen.

Zarte Freundschaftspflänzchen

Wichtig an unserer Begegnung war auch, dass wir uns beide fast alles sagen konnten. Ich war schnell ein Teil ihrer Familie und sie von meiner. Es kann also auch ganz anders laufen. Ich bekomme heute noch Brombeermarmelade (yammie) aus ihrem Garten und liebe Karten zum Geburtstag und den Feiertagen. Leider trennte uns irgendwann ein Keim und wir konnten nicht mehr zusammen in einem Zimmer liegen. Dafür hatte meine „Lieblingsbärbel“ – mit ihrem „Lieblingsbenno“ – ab diesem Zeitpunkt immer schön ein Einzelzimmer. Es war ihnen gegönnt.

Jackie – jung und schön

Auch bei meiner dritten Begegnung war ich die „Neue“ im Zimmer. Jackie (sie hat in Wahrheit einen anderen Vornamen) lag mit den Füßen Richtung Kopfende und dicken, selbstgestrickten Strümpfen im Bett. Die Füße baumelten im sogenannten „Galgen“ und sie las „DIE ZEIT“. Sie trug eine coole Mütze und versuchte sich schnell aufzurichten, um mich zu begrüßen. Dabei verhedderte sie sich mit ihren Füßen im „Galgen“ und ich sprang erschrocken auf sie zu, um sie zu befreien.

„Gerade noch mal gut gegangen“ schnaufte sie. Ich musste grinsen. Sie war bildschön. Anfang dreißig, schlank, lange Beine und dieses Gesicht, diese Augen. Wahnsinn. Wir hatten gleich einen guten Draht zueinander. Obwohl sie erst so jung war, hatte ihr das Leben schon einige fette Aufgaben gestellt. Vor ca. 10 Monaten hatte sie erst angefangen, als Direktorin zu arbeiten, da musste sie sich schon, nicht einmal drei Monaten im Amt, wegen einer schlimmen Depression in eine Klinik begeben. Ihre Kinder dazu noch sehr jung (3 und 5 Jahre). Kurz nach der Entlassung fingen ihre Krebs-Symptome an, sich bemerkbar zu machen.

Anschnallen? Wozu?

Sie erzählte mir, dass ihr Mann, nachdem er sie vom Internisten mit der fürchterlichen Diagnose im Auto abholte, zu ihr gesagt hatte: „Bitte, Schatz, schnall dich an.“ Sie schaute mich an und sagte fast bockig: „Warum soll ich mich denn noch anschnallen. Ist doch eh egal.“ Ich war erschrocken, musste aber dann doch lachen – und Gott sei Dank – sie tat es auch. „Weißt du, ich habe letztens etwas ganz Ähnliches erlebt“, konterte ich. „Auf meinem Teller lag ein an den Enden ziemlich verkokeltes Stück Hähnchenbrust, daraufhin sagte ich zu meiner Tochter: Das sollte ich wohl besser nicht essen, ist krebserregend, habe ich mal gelesen.“

Wir lachten und lachten und lachten. Der Bann war gebrochen und wir tauschten uns frank und frei über alles aus, was wir bisher erlebt hatten. Dazu gehörten auch ein paar Sprüche von sogenannten Anteilnehmenden. Wir hatten fast denselben Fundus.

Krankenkasse – Urlaubskasse

Ihr Glück im Unglück war, dass ihr Dienstherr sie vorher – auch vor der Depression – überredet hatte, eine private Krankenversicherung abzuschließen. Ihre Police hatte den Vorteil, dass sie die Tage im Krankenhaus als „Ausfallzeiten“ ausbezahlt bekam. Das war so gesehen ein schöner Nebeneffekt und Jackie und ihre Family machten mit dem „Zuschuss“, natürlich nur, wenn es gesundheitlich einigermaßen ging, schöne Kurztrips. Irgendetwas Gutes musste man ja aus der ganzen Situation machen. Das war sowieso immer unser Credo, unser Leitsatz. Wenn die Lage schon bescheiden ist, muss man sie das ja nicht wissen lassen, sonst richtet sie sich noch längerfristig bei einem ein. Das wollten wir nicht. Immer schön Haltung bewahren.

Britta – Verkaufskanal am Krankenbett

Ich kam von einer Untersuchung und betrat mein Zimmer. Doch, was war das, hatte ich mich in der Tür geirrt? Eine große Tagesdecke mit Hundemotiv lag auf dem Nachbarbett. Reichlich Kataloge auf dem Nachttisch. Während ich noch überlege, fliegt mir schon die Badezimmertür entgegen und Britta und ich stehen uns Nase an Nase gegenüber und schauen uns an. Nee halt, ich schaue, sie quasselt gleich los in einem Tempo, dass ich nur Wortfetzen mitbekomme. „Bin nur zufällig hier“, meinte sie. „Wahrscheinlich nichts Großes“, sabbel, sabbel, „Blutwerte“ murmel, murmel und das entscheidendste für mich: „Am Wochenende bin ich wahrscheinlich auch wieder zu Hause, bei Hund, Kindern und Mann“ – genau in der Reihenfolge.

Lady in pink

Oh mein Gott, das sind aber auch zwei Tage. Ich ahnte nichts Gutes. Ein kurzer Blick ins Badezimmer verriet, dass ich vermutlich richtig lag. Alles voll mit pinken Pflegeutensilien. Eine richtig große Kosmetiktasche – lila mit Herzchen – hing an MEINEM Haken. Dazu noch ein großes Badetuch mit einer elfengleichen Ballerina in einem hauchzarten Rahmen. Ich glaube es ja nicht. Was ist denn hier los? Versteckte Kamera oder wie? Ich bin absolut im falschen Zimmer, hoffentlich. Kann gar nicht anders sein. Doch da kommt Schwester Monika ins Zimmer. Einen Stapel mit Handtüchern auf dem Arm, ruft sie schwungvoll: „Ach, die Damen haben sich schon bekannt gemacht. Wie schön.“ Schön, schön? Ich glaube, ich spinne, hier ist nichts schön. Ich will sofort in ein anderes Zimmer, bitte, denke ich und hoffe, dass Schwester Monika meine Gedanken lesen kann. Kann sie leider nicht. Die Tür fällt ins Schloss und wir sind wieder allein.

Große Schale, kleiner Preis

Ich lasse mich mutlos auf mein Bett fallen. Da merke ich, dass sie hinter mir steht und in irgendetwas blättert. „Du, ich bin ja Tupperberaterin und kann dir echt tolle Angebote machen. Große Schale, kleine Preise, sage ich immer. Und die Qualität: 1a. Schau mal hier, da ist das Salatbesteck gleich mit dabei. Kann man oben auf dem Deckel einklinken. War auf meiner letzten Tupperparty der Renner. Gibt es in Mintgrün, in Lila und Pink – und tara, in drei Größen. Ich habe die alle. Du willst nicht mehr ohne leben, glaub mir.“ Ich bin so verzweifelt, dass ich sprachlos bin. Ich komme mir vor wie in einem dieser Verkaufskanäle, nur leider kann ich den nicht abschalten, oder auf stumm stellen.

Kopfhörer im Rettungseinsatz

Dann, meine Rettung, ihr Handy klingelt: „Was hat der Bote die Lieferung wieder vor die falsche Garage gelegt?“ Ich bedeute ihr, dass sie das Gespräch vielleicht besser draußen fortführt. Keine Reaktion. Sie redet wie ein Wasserfall. Ein Geistesblitz durchzuckt mich. Kopfhörer, wo sind meine Kopfhörer? Handy geschnappt und eingestöpselt. Hurra! Ich lege mich ins Bett und schließe die Augen. Und Wunder, sie wird leiser. Ich stelle mich schlafend. Die Nacht kann kommen. Ich lasse mir sicherheitshalber noch eine Mini-Schlaftablette und Ohrstöpsel geben, sollte sie im Schlaf reden. Man weiß ja nie.

Einmal Vertrieblerin, immer Vertrieblerin

Am nächsten Tag wurde sie gleich nach dem Frühstück – sie musste natürlich nüchtern bleiben – vom Krankentransport abgeholt. Die schönen eingetupperten Köstlichkeiten kamen also nicht zum Zuge. Denn natürlich war sie topvorbereitet. Ich atmete tief durch, als der Bettentransport Britta samt Bett hinausschob. Sie winkte rückwärts und flötete „Bis gleich, du kannst gerne etwas in den Katalogen stöbern, während ich weg bin.“ Einmal Vertrieblerin, immer Vertrieblerin, dachte ich. Das steckt einfach drin, da kann man nichts machen. Die Ruhe danach war kaum auszuhalten. Ich war happy. Erst am späten Abend kam sie zurück. Völlig k.o. Schwester Anita hatte mir schon berichtet, dass sie Britta kennt. „Ich war auch mal Tupperberaterin im selben Einzugsbereich wie Britta“, gestand sie mir. „Aber so krass wie die war ich nie. Ich denke, in ihrem Keller befinden sich locker Tupperwaren im Wert von mindestens 5.000 €.“ Das glaubte ich sofort. „Ich bin reflexartig in Deckung gegangen, als ich ihren Namen auf dem Belegungsplan gelesen hatte.“

Trauma: Hunde-Kuschel-Tagesdecke

Das schönste an der Sache war aber, dass sie ihr Versprechen einlöste und mich am Wochenende in Ruhe ließ. Sie durfte nach Hause. Erst am Montag war sie wieder da, um sich bestätigen zu lassen, dass sie wohl doch nur Diabetes oder „so etwas ähnliches“ habe. Mir war es egal. Der wunderbarste Augenblick war für mich, als die synthetische Hunde-Kuschel-Tagedecke in ihrem Koffer verschwand und in ihm davonschob. Denn den schiefgelegten Kopf eines kleinen rosafarbenen Puschelhundes mit heraushängender Zunge und mit einem ausgesprochen dämlichen Gesichtsausdruck hatte ich das ganze Wochenende ansehen müssen. Das nächste Mal werfe ich ein Betttuch drüber. Echt. Der Einfall kam mir leider zu spät. Ich hatte noch lange dieses Bild vor Augen. Ein echtes Trauma.

Ach ja – um es wenigstens zu erwähnen: Ich habe ihr keine einzige Tupperdose abgekauft. Nicht eine!

Constanze – von Tupper zu Stasi

Kaum war Britta weg, kam Constanze in mein Zimmer. Eine 180 Grad-Wendung der vorherigen Szenerie. Ich war noch immer leicht duselig von Brittas Promotexten und etwas verwirrt. Constanze kam vorsichtig auf mich zu und gab mir ihre warme, angenehme Hand, um sich mir vorzustellen und schaute mir dabei interessiert in die Augen.

Alles schön. Alles in Ruhe. Prima, so konnte es weiter gehen. Anstatt einer Kuscheldecke hatte sie ein schönes großes selbst gemaltes Bild dabei, das sie gleich gegen dieses fürchterliche Blumenbild austauschte, das bisher dort hing. Das hatte sie eindeutig nicht zum ersten Mal gemacht. Überhaupt wurde sie von allen herzlich begrüßt. Jeder freute sich, sie zu sehen. Ich verstand auch schnell, warum. Sie war ein wirklich besonderer Mensch. Eine echte Philanthropin. Sie hörte mir zu und überschüttete mich mit Komplimenten. Dies war umso erstaunlicher, als ich später mehr aus ihrem Leben erfuhr.

Familieninsel der besonderen Art

Sie war in Thüringen mit ihren Schwestern groß geworden. Ihr Vater war ein wichtiger Kirchenmann und hatte sich nie für das DDR-Regime verbiegen lassen. Seine Haltung war von Nächstenliebe und Vergebung geprägt. Eben den urchristlichen Werten. Die Kinder bekamen im Alltag oft die Folgen dieser unerschütterlichen Haltung zu spüren. Ganz besonders in der Schule. Jede noch so kleine Nachlässigkeit wurde zum Anlass genommen, um ihnen das Leben im Klassenverbund schwer zu machen. Sie lebten mit ihren Eltern auf einer Art-Familieninsel. Kontakte zu anderen Kindern waren so gut wie unmöglich. Wie stark der Zusammenhalt dieser Familie war, hatte mich sehr beeindruckt. Denn nach ihrer Erkrankung waren die Schwestern immer wieder eingeflogen, um sie zu betreuen.

Zeitzeugenkopfkino

Nach der Wende, die für alle in der Familie ein echtes Glück war, hatte sie sich schließlich bei der Gauck-Behörde beworben und war dort dafür zuständig, die aufgenommenen Verhöre der Stasi auszuwerten und zu dokumentieren. Ich war total fasziniert. So einen Menschen wie sie hatte ich vorher noch nie kennen gelernt. Natürlich durfte sie mir keine Einzelheiten aus ihrer Arbeit berichten, aber schon die pure Vorstellung kurbelte mein Kopfkino an. Vor allem nach der Serie „Weissensee“ meinte ich eine ungefähre Vorstellung von dem zu haben, was sie sich da anhören musste. Ich muss heute noch schmunzeln, wenn ich daran denke, dass direkt nach der „Tupperfrau“ Constanze mit den Stasi-Geschichten auf den Plan trat. Schon verrückt. Das kann man sich nicht ausdenken.

Foren versus Verzweiflung

Was ihre Krankheit betraf, hatte sie schon mehrere Therapien durchlaufen. Nichts hatte geholfen. Sie erzählte mir, dass sie sich in ihrer Verzweiflung einmal in einem Forum angemeldet hatte. Dort war sie auf viele Betroffene gestoßen, die sich einer Stammzelltransplantation unterzogen hatten oder diese planten. Nach mehreren Kontakten und unschönen Verläufen hatte sie für sich entschieden, keine Stammzelltransplantation durchführen zu lassen. Diese Schilderungen haben mich lange geprägt. Irgendwann war der Zeitpunkt dann auch vorbei, an dem sie diese Therapieform hätte in die Wege leiten können. Sie war viel zu schwach. Die Werte im Keller. Eine Schwester, der ich von Constanzes Erfahrungen und ihrer Sicht auf die Transplantation berichtete, sagte einmal zu mir: „Nella, gehen Sie bitte nie in ein Forum. Dort treffen sich die Menschen, die keine Hoffnung mehr haben.“ Das habe ich mir zu Herzen genommen. Und es war gut so!

Am liebsten würde ich Constanze heute – nach meinen Erfahrungen – zurufen, hättest du es doch wenigstens versucht.

„Wir bleiben in Kontakt“

Ich kann heute nicht mehr zählen, wie oft ich diese Begegnungen im Krankenzimmer hatte. Über einige davon werde ich auch noch in einem zweiten Teil berichten. Also, wenn euch das interessiert, bleibt wachsam.

Beruhigend ist – in der Nachschau – die Tatsache, dass die schönen Begegnungen bei weitem überwogen. Diese kurzen Schicksalsgemeinschaften gehören heute zu meinem Leben, denn natürlich denke ich immer und immer wieder an die einzelnen Schicksale. Wie geht es ihnen heute? Haben sie es geschafft? Mit einigen treffe ich mich sogar regelmäßig.

Natürlich tauscht man – gerade am Anfang – Handynummern aus, aber das fährt man dann doch etwas zurück. Denn man kann und möchte vielleicht auch nicht unbedingt mit allen in Kontakt bleiben. Das ist dann auch ähnlich wie bei Urlaubsbekanntschaften. Das überzeugte: „Wir bleiben in Kontakt“ fällt oft genug dem Alltag zum Opfer. Und außerdem: Ich habe mir das immer sehr gut überlegt, wen ich noch näher an mich heranlassen möchte.

Aber eines kann ich jedenfalls sagen, es ist sehr wichtig, sich über die zurückliegende Zeit im Krankenhaus auszutauschen und auch zu sehen, wie es den anderen nach der Therapie geht. Wie sie sich wieder ins Leben zurück kämpfen. Denn das sind wirklich alle: ganz große Kämpfer!

Aufgegeben hat keine, so schwer und manchmal aussichtslos der Fall auch war. Irgendwie hängt man ja doch am Leben …

Was sind deine Geschichten, deine Erlebnisse auf der Station? Schreibe sie gerne in die Kommentare unter diesem Beitrag.

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„Subjektive Krankheitskonzepte“ mindern die Lebensqualität von Patienten – Zellenkarussell

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„Nellas Neuaufnahme – warum sich Patienten und Ärzte besser verstehen sollten“

Mit Kommentaren, Interviews und Gesprächen. Hier geht es zu den bisher veröffentlichten fünf Episoden >>>  Podcast: Nellas Neuaufnahme – Zellenkarussell

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2 Gedanken zu „Auf gute Nachbarschaft

  1. Nach all diesen Geschichten, habe ich die Vorstellung, bevor ich in eine solche Situation komme, weiss ich schon mal, wie es so ablaufen kann. Ich war immer nur kurzfristig in einer Klinik und das hat mir schon gereicht, zumal ich mich schüchtern zurückgezogen habe und immer ganz stumm blieb. Für meine Bettnachbarn auch nicht so prickelnd, aber das war mir wurscht. Ich hatte immer nur, wie gesagt kurze Aufenthalte.

    1. Ja, das kann ich gut verstehen. Man muss ja auch nicht gleich sehr persönlich einsteigen.
      Bei Menschen mit der Diagnose Krebs ist es allerdings häufig so, dass man sich als eine eingeschworene Gemeinde versteht und es recht schnell auf die Ebene des Erfahrungsaustausches geht. Es wird einiges abgeklopft. So zum Beispiel „Wie hat es bei dir angefangen? Hast du gleich einen kompetenten Arzt gehabt? In welchem Stadium bist du? Wie viele Chemo-Zyklen stehen auf deinem Behandlungsplan? usw. Es hat alles Gewicht. Jede Kleinigkeit wird verglichen, um das Ganze einzuordnen, herauszufinden, wo man selber steht. Dass das wenig hilft, weil jede Diagnose so anders, so individuell ist, versteht man erst später, aber man tut es eben. Ist wie ein Reflex. Daher kommt man sich auf einer Onkostation sehr schnell, sehr nahe. Sich dann aber auch abzugrenzen, ist die „Hohe Schule“ des Miteinanders im Krankenzimmer.
      Herzlichst, Nella

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