“Ich hatte drei Prozent Überlebenschancen – und die sitzen jetzt hier.”
Nella Rausch, 58 Jahre, Diagnose: Non-Hodgkin-Lymphom
Nella Rausch springt sofort hinein in ihre Geschichte, nimmt mich mit auf eine bildreiche und wortgewandte Reise durch ihre Krebserkrankung, die beim Zuhören so lebhaft ist, dass man beinahe beschämt ist, wie gut man sich unterhalten fühlt. Die 58-jährige Berlinerin, die in Dortmund geboren wurde, ist eine echte “Rampensau”, wie sie später im Gespräch selber sagt.
Sie beginnt ihre Geschichte am Nikolaustag des Jahres 2015 – an diesem Tag wies Nella Rausch sich selbst in die Notaufnahme eines Krankenhauses ein, weil sie fand, “dass nichts mehr stimmte”. Normalerweise lief sie viel, auch Halbmarathon, tanzte Flamenco, fuhr Rad. Irgendwie fehlte plötzlich die Energie, dazu das Schwitzen in der Nacht – naja, könnte auch die Menopause sein, dachte sich die Mutter dreier Kinder. Aber da war diese “dicke Schwellung unterm rechten Rippenbogen”. Zuvor hatte eine Ärztin die Vermutung ausgesprochen, die Prokuristin und Projektleiterin habe vielleicht eine Eisenspeicherkrankheit. Ein Termin zum Prüfen der Annahme war für den Januar ausgemacht. “Hätte ich den Rat befolgt, dann wäre ich heute nicht mehr hier”, sagt Nella Rausch.
“Der Arzt im Krankenhaus wurde beim Ultraschall ganz ruhig und sagte: Das dauert etwas länger!” Aus länger wurde sehr viel länger, die Diagnose: Ein Non-Hodgkin-Lymphom im vierten Stadium. Non-Hodgkin ist in vielen Fällen heilbar – bei Nella Rausch nicht. Chemotherapien folgten, wollten jedoch nicht richtig funktionieren. 2016 wirkte eine CAR-T Studie wie ein rettender Strohhalm – “Ich bin nicht in die Studie reingekommen, weil ich nicht passte”, sagt Nella Rausch und es klingt so beschwingt, als würde sie von einem missglückten Schuhkauf erzählen.
Blieb die Frage: Was tun? “Ich habe dann eine Immuntherapie angefangen, noch bevor die Krankenkasse zugestimmt hat. Mein Professor sagte: Wir stehen nicht mit dem Rücken zur Wand, wir stehen schon drin. Ich hatte noch drei Prozent Überlebenschancen – und die sitzen jetzt hier!”
Am 23. Juni 2017 folgte noch eine Stammzellentransplantation, seitdem ist Nella Rausch krebsfrei. “Ich habe aber mit Abstoßungsreaktionen zu tun, die sich bei mir in der Lunge abspielen. Mein Lungenvolumen liegt bei 30 Prozent”, sagt Nella Rausch und schiebt nach, dass sie dennoch im letzten Jahr beim Frauenlauf zehn Kilometer gewalkt ist. Natürlich – niemand, der sie kennt, würde sich darüber wundern. Sie ist eine Macherin, die sich über ihre Einschränkungen nicht ärgert, sondern ihre Möglichkeiten einfach uminterpretiert hat – dieses geht vielleicht nicht mehr – dafür aber jenes.
Mit dieser Einstellung hat sie viel aus ihrem neuen Leben gemacht: 2019 gründete sie den Blog “Zellenkarussell”, es folgte 2020 der Podcast “Nellas Neuaufnahme” und der Ratgeber “Warum sagt mir das denn niemand? Was Du nach einer Krebsdiagnose alles wissen musst”. Nella Rausch hat viel zu sagen, musste was los werden. “Ich habe aus Wut geschrieben, nicht aus Therapie. Gegen die Stigmatisierung: Denn Krebs ist zwar blöd, aber macht nicht blöd! Und auch mit Schuld hat Krebs nichts zu tun.” Ein Gefühl, das Erkrankten oft gegeben wird. Oder nahestehende Menschen einholt.
Wie bei Nella Rausch, die in diesem einen Moment unerwartet und umso berührender in Tränen ausbricht: Es geht um ihren Vater. “Das war der schlimmste Moment während meiner Krankheit: Als mein Vater, der zu dem Zeitpunkt schon dement war, dachte, er wäre Schuld, da er selber auch ein
Non-Hodgkin-Lymphom hatte.” Aber Schuld ist für Nella Rausch ebenso ein Unwort im Zusammenhang mit Krebs wie das Wort Kampf. “Ich finde, Krebs ist kein Gegner, gegen den man kämpfen kann. Die Ärzte können kämpfen, ich selbst kann nur versuchen, eine Einstellung dazu zu finden. Am besten Akzeptanz. Ein Kampf zieht zu viel Energie.”
Heute blickt sie zurück auf die Zeit vor der Diagnose und erkennt, was die Krankheit auch zum Positiven bei ihr verändert hat. “In meinem Leben war alles tutti: Arbeit, Familie, Ehemann … Aber ich war wie in einem Hamsterrad, so getrieben, konnte nicht richtig innehalten und genießen”, sagt sie und webt wieder eines dieser wunderbaren Bilder in ihre Geschichte ein: “Ich hatte lange einen kratzigen Pullover an, der war auch ein wenig eingelaufen. Aber trotzdem habe ich ihn immer wieder neu gewaschen und angezogen.”
Nun trägt sie nur noch, was ihr wirklich gefällt. Was weder kratzt, noch zu eng ist.